Henoch
Wenn ich jetzt auf das Henoch-Buch zu sprechen komme, von welchem sich
verschiedene Fragmente auch in den Höhlen 1, 4 und 11 von Qumran fanden,
so muß ich eines korrekter Weise vorab schicken: die Person Henoch
(sowie eine vermutete "Urschrift" des Henoch-Buches) war Inspiration
für viele Schriften, welche auch unter dem Begriff "Schriften des
Henoch-Kreises" zusammengefaßt werden. Die in meinem Referat
erwähnte Schriften gehören also zum Henoch-Kreis.
Inhalt und Hintergrund
Das Henoch-Buch versteht sich als von einem Urzeit-Patriarchen verfaßt
- wie dies auch bei vielen anderen apokryphen Schriften der Fall ist. Henoch
tritt hier als Prophet und Weiser auf, der die Hintergründe alles
Abb. 1: Struktur des Henoch-Buches
irdischen Geschehens und natürlich auch die Geschichte seines Volkes
kennt, ebenso das Handeln der Engel (der guten sowie der bösen - auch hier
finden wir den nicht nur von Qumran bekannten Dualismus). Er erhält
während zweier Himmelsreisen kosmografische Kenntnisse und wird
schließlich von Uriel in die kosmologischen Geheimnisse eingeweiht.
Letztendlich gibt der Patriarch in Lehr- und Strafreden sein Wissen an Frevler
und Fromme weiter und wird somit zum prophetischen Mahner.
In der jüdischen Literatur finden wir Henoch als Typus des Gerechten.
Gemeinsam mit anderen Erzvätern erscheint er bei der Offenbarung des
eschatologischen Heils vom Himmel her und nimmt häufig eine engelsgleiche
Stellung ein.
Der äthiopische Henoch (Hen[äth]) stellt
eine Sammlung von fünf bzw. sechs Traktaten dar (siehe Abb. 1). Gelegentlich werden (wie in der Abbildung)
die Anhänge (Wunder bei der Geburt Noachs sowie Henochs Mahnschrift
für Metusalah) den Episteln zugeordnet. In den sieben fragmentarisch
erhaltenen Kopien der äthiopischen Version in Qumran finden wir keinen
Beleg der Bilderreden - dafür jedoch Teile eines "Buches der
Riesen". Ob dieses die Bilderreden ersetzt (oder aber später durch
die Bilderreden ersetzt wurde) ist nicht sicher. Der
äthiopische Henoch wurde der europäischen Öffentlichkeit erst
gegen Ende des 18. Jhd zugänglich.
Entstehung
Es gab im 3. Jhd vuZ Kreise innerhalb des Judentums, denen die
Wiederherstellung des Temples sowie des Tempelkultes und somit der
theokratischen Verfassung für die Restaurierung der neuen Bundesgemeinde
als unzureichend erschien. Durch die starke Betonung der Torah seitens der
Priester wurden ihnen die prophetisch-eschatologischen Momente zu sehr in den
Hintergrund gedrängt.
Diese Apokalyptiker verstanden sich als Bollwerk gegen die Zuwendung zum
Hellenismus und dem damit verbundenen Synkretismus. Ihre Bewegung war
geprägt durch Gesetzesstrenge, eine radikale Geschichtsdeutung
(welche die Gegenwart als Gerichts- bzw. Zorneszeit ansah, die zur Aufrichtung
des Gottesreiches führen würde), sowie der Kenntnis von Gericht,
Auferstehung und Unsterblichkeit (für die Frommen) bzw. ewiger
Vernichtung (für die Frevler). Die Pflege weisheitlicher Elemente sowie
o.g. Prägungen waren die geistige Stütze der Bewegung.
Neben der offiziellen Literatur sammelte, targumisierte und kopierte die
Gruppe auch Literatur, welche die klassische Prophetie aufnahm, jedoch durch
neue Elemente erweiterte. Gemeinsame Kriterien zur Beschreibung dieser
apokalyptischen Literatur sind schwer einzugrenzen: Pseudonymität,
zentrale Bedeutung von Visionen, Geschichtsdarstellungen in der Futur-Form,
Pessimismus im Blick auf die Gegenwart sowie glühende Erwartung der
Zukunft, der Vorsehungs-Gedanke (Determinismus aller irdischen Ereignisse)
sowie eine Tendenz zum Universalismus und eine individuelle Gewißheit
des Erwähltseins (Exklusivität) lassen sich in ihnen ebenso finden
wie die Tatsache, daß der Visionär Teilhaber des göttlichen
Planes und somit ihm und den Frommen, die an der himmlischen Szene teilhaben,
Weisheit zu eigen ist.
Parallelen zu anderen Qumran-Schriften
Auffallende Parallelen finden sich in der Geschichtsdeutung: es werden im
Gegensatz zu anderer prophetischer Literatur (etwa dem biblischen Daniel) nicht
nur einzelne Momente als geschichtlich relevant betrachet, sondern es findet
eine Geschichtsdeutung vom Anfang bis zur Gegenwart statt (so in der
Tierapokalypse des Henochbuches, aber auch in Fragmenten eines apokryphen
Daniels aus Höhle 4). Die Eschatologie sieht eine Vollendung der
Geschichte nach einer Endzeit mit Krieg und Vernichtung (wie auch 1QM):
Satan und die gefallenen Engel werden vernichtet (1QM,
1QGenAp), und ebenso die unbußfertigen Sünder
(1QpHab). Henoch gilt als Prototyp der Weisen, göttliche
Weisheit ist nur vom Frommen und nur durch Offenbarung zu erlangen
(1QH, CD). Henoch wird zu einer Leitfigur (1QGenAp,
Jub, 5Q13. Darüber hinaus legen Anspielungen und direkte
sowie indirekte Zitate in Qumran-Schriften, welche Henoch nachgeordnet sein
dürften, nahe, daß die Verfasser der Henoch-Schriften in Kreisen zu
suchen sind, die Qumran nahestanden.
Entstehungszeit
Die Traktate entstanden zu unterschiedlichen Zeiten:
- Buch der Wächter (I - XXXVI) ca. zwischen Ende 3. / Mitte 2. Jhd. vuZ
- Bilderreden (XXXVII - LXXI)
teilweise kurz vor, größtenteils kurz nach Zeitenwende
- Astronom. Buch (LXXII - LXXXII) 3. oder 2. Jhd. vuZ
- Buch der Traumvisionen (LXXXIII - XCI) 2.Jhd vuZ
- Epistel Henochs (XCII - CVIII) 1. Jhd. vuZ
Als sicher gilt jedoch auch, daß z.T. wesentlich ältere
Stücke Aufnahme in die Traktate fanden. Für eine abschließende
Komposition, vermutlich kurz nach der Weitenwende, wird ein jüdischer
Redaktor angenommen.
Quellenlage:
Abb. 2: Handschriften-Stemma
- Hen[äth]
Vom äthiopischen Henochbuch existieren Fragmente in Aramäisch,
Griechisch, Syrisch und Koptisch - vollständig ist es jedoch nur in
äthiopischen Handschriften überliefert. Schon früh fand es
Aufnahme in den Kanon der äthiopischen Kirche und
"überlebte" dadurch, obwohl es sonst sowohl von den Juden
(aufgrund der Messianologie) als auch von den Christen (aufgrund des
jüdischen Ursprungs) abgelehnt wurde.
Es existiert eine große Zahl verschiedener Handschriften, sodaß
eine ursprüngliche Katalogisierung mit "Siglen", wobei
jeder Handschrift ein Buchstabe des Alphabets zugeordnet wurde, sehr bald
aufgegeben werden mußte. Darüber hinaus wird Hen[äth]
viel in anderen Handschriften zitiert - von denen manche zu einer Zeit
abgefaßt wurden, aus der nur wenige Manuskripte von Hen[äth]
überliefert sind. Die verschiedenen Handschriften lassen sich im Groben
zu zwei Familien (Aeth I und Aeth II) zusammenfassen, auf
welche später noch eingegangen werden soll.
- Hen[grie]
Hier ist der Text besser erschlossen als der von Hen[äth]:
neben reinen Textausgaben sind auch Einleitungen mit ausführlichen
Bibliografien verfügbar. Der griechische Henoch besteht im
wesentlichen aus folgenden Handschriften bzw. Fragmenten:
- Synkellosfragmente [GrS]:
Die Chronografie von Synkellos (Beginn 9. Jhd) enthält Texte, die
zum Buch der Wächter gehören. Sie bestehen zum Großteil
aus Paraphrasen und sind daher nur von begrenztem textkritischen Wert.
- Achmimfragmente [GrP]
Diese Fragmente aus dem 5./6. Jhd. uZ, die 1886/87 in einem Grab von
Achmim-Panopolis gefunden wurden, gehören ebenfalls zum Buch der
Wächter und sind für Hen[äth]
von Bedeutung.
- Codex Vaticanus Graecus 1809 [GrV]
Ebenfalls von Bedeutung für Hen[äth] sind diese Exterpte einer
byzantinischen Chronik aus dem 10./11. Jhd. Sie stellen keine direkte
Kopie eines Henoch-Textes, sondern vielmehr die einer (verlorengegangenen)
Sammlung von Henoch-Auszügen dar.
- Chester-Beatty-Papyrus [GrCB]
Die literarische Vorlage zu diesem aus dem 4. Jhd uZ stammenden Werk
dürfte auf das 3. Jhd uZ datieren. Von besonderer Bedeutung ist
GrCB für die Bewertung der
"Familien" des Hen[äth].
- Hen[aram]
Als älteste Zeugen dieser Apokalypse wären auf jeden Fall die in
4Q gefundenen Fragmente von ca. 9 Handschriften zu nennen, welche leider
nur einen Bruchteil des Gesamttextes repräsentieren. Mit ihrer
Datierung auf das 2. Jhd. vuZ bis 1. Jhd. uZ dürften sie einen Beweis
für Sammlung und Kopie von Texten des Henochkreises in vorchristlicher
Zeit darstellen und sind wichtig für die Text- und Literarkritik sowie
wirkungsgeschichtliche Forschung. Mit Ausnahme weniger Passagen (z.B. des
Astronomischen Buches, welches in Qumran in einer umfangreicheren und
wahrscheinlich auch ursprünglicheren Variante vorliegt) finden sich
hier keine substantiellen Abweichungen von Hen[äth].
- Hen[kopt]
1 Fragment aus dem 6./7. Jhd wurde 1937 gefunden.
- Hen[syr]
Michael der Syrer zitiert im vierten Kapitel des ersten Buches seiner
Chronik aus Henoch. Seine Vorlage entspricht scheinbar der des Synkellos
und dürfte somit aus dem 5. Jhd uZ stammen.
- Hen[lat]
Dieser Fund aus dem 9. Jhd uZ zeigt starke Abweichung vom bekannten
Textbestand.
Textgeschichte:
- Urfassung und Vorlage
Wie die Urfassung / Vorlage genau ausgesehen haben mag, läßt
sich nicht mit Sicherheit klären. Einigkeit herrscht nur bzgl. einer
ursprünglichen semitischen Vorlage - strittig ist jedoch, ob diese in
Hebräisch, in Aramäisch, oder in Hebräisch und
Aramäisch abgefaßt war. 100%ig ist der Archetypus nicht
herstellbar - allenfalls hypotetisch durch Textkritik. Auch an
Hen[äth] ist bereits eine textkritische Bearbeitung erkennbar,
sodaß dieser ebenfalls als Archetypus ausscheidet.
Wovon ist nun Hen[äth] abgeleitet? Verschiedene "Korruptelen"
in Hen[äth] lassen sich nur mit
textkritischer Arbeit auf Grundlage des Griechischen Henoch glätten -
andererseits bietet letzterer oft einer verderbte,
Hen[äth] jedoch eine offensichtlich ursprünglichere
Lesung. Wurde Hen[äth] also direkt aus dem
semitischen Original abgeleitet? Dagegen steht die vermutete
Übersetzung der gesamten äthiopischen Bibel aus dem Griechischen.
Hen[äth] weist Zusätze sowohl zum aramäischen als auch zum
griechischen Henoch auf und bietet Formulierungen, die weder im
aramäischen noch im griechischen Henoch zu finden sind - daher wird
eine Tendenz der Targumisierung des griechischen und äthiopischen
Henoch gegenüber dem aramäischen vermutet. Da
Hen[äth] Bestandteil des äthiopischen Kanons ist und somit
zusammen mit selbigen übersetzt wurde, ist auch hier eine mehrstufige
Überarbeitung der Übersetzung naheliegend.
- Textgestalt
Bis zum 13. Jhd uZ fanden im wesentlichen keine Revision an
Hen[äth] statt. Ebenso sind im 14. bis 16. Jhd. kaum Revisionen
nachweisbar - für andere Bücher des Kanons jedoch wird eine Revision
nach syrisch / arabischen Vorlagen angenommen. Für die
"akademische" Rezension im 17./18. Jhd wurden angeblich
Einflüsse des hebräischen Textes, daneben aber auch
Einflüsse arabischer Vorlagen festgestellt. Die beiden bereits oben
erwähnten Familien werden wie folgt aufgeschlüsselt:
Aeth I ca. bis 15./16. Jhd,
Aeth II ab 15. Jhd (nach Uhlig).
Fußnoten
1 |
die Bilderreden enthalten Elemente, die wahrscheinlich christlichen
Ursprung haben (Darstellungen über den "Menschensohn" 1
Messianologie) |
2 |
siehe auch die Päscharim in Qumran |
3 |
Quelle: Siegbert Uhlig, Das äthiopische Henochbuch, in:
"Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Band V,
Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1984, S. 491 |